Waldbaden – Interview mit Dr. Qing Li
Der Umwelt-Immonuloge Dr. Quin Li gilt als DER Experte für Shinrin Yoku, dem Waldbaden. Im Interview erklärt der Japaner, wie der Wald Körper und Geist stärkt.
Im Norden zeigt der Schwarzwald seine wilde Seite. So wild, dass sich Wolf Alexander Hanisch fast im Totholz verliert. Bis er in einem alten Grandhotel landet. Dort spukt es.
Für Sehnsuchtsanwandlungen braucht es manchmal wenig. Ein Wort kann schon reichen. Es taucht auf, nistet sich ein in Gefühle und Gedanken und muss Gestalt annehmen, sonst macht es einen kirre. Mein Sehnsuchtswort: Waldeinsamkeit. Eine Weltflucht zu Vogelzwitschern, Blätterbrausen und Stämmeknarren im grünen Licht der Kronendächer. Erleben will ich diese Dinge im Schwarzwald. Und das glaubt mir keiner. Deutschlands höchstes Mittelgebirge ist für fette Sahnetorten, lustige Hüte und kitschige Wanduhren bekannt. Im Norden gibt es außerdem die Schwarzwaldhochstraße, eine legendäre Ferienroute, die sich zwischen Baden-Baden und Freudenstadt von Hotel zu Hotel schlängelt. Doch ausgerechnet im Schwarzwald will man der Wildnis mehr Raum lassen und sie erfahrbar machen. Deshalb gibt es seit 2014 einen Nationalpark, der sich auf 100 Quadratkilometern rund um die Hochstraße erstreckt. Und neben verschiedenen Themenpfaden auch sechs "Trekking-Camps", von denen ich eines für den Anfang der Reise gebucht habe. Sie sind zu Fuß zu erreichen und bieten bloß eine Feuerstelle, ein Klohäuschen und behördlichen Segen.
Am Rand des Nationalparks wandere ich zwei Stunden lang kreuz und quer über Wege und Pfade. Markierungen gibt es keine, die GPS-Daten weiß ich nicht. Meine Landkarte ist bald ein feuchter Lappen: Schon auf dem Wanderparkplatz hat der Regen eingesetzt. Dann erkenne ich endlich das Camp Grimbach in der grünen Tiefe des Buchenwaldes. Ich baue das Zelt auf, krieche hinein, schaue hinaus. Der Regen fällt jetzt nicht mehr, er steht. Eine graue, kaum durchsichtige Wand. Stunde um Stunde geht dahin. Früher als gedacht muss ich den Kirschschnaps für seelische Notlagen anbrechen. Doch weder Gemüt noch Wetter hellen sich auf. Stattdessen macht sich der Wind über die Kammlage her. Er ist wie ein Kleinkind, das sich in sein Heulen hineinsteigert, bis es durch nichts zu besänftigen ist. Orkanböen schleudern Äste nach dem Zelt, dann rinnt das Wasser durch die Planen. Durchnässt trete ich den Rückzug zum Auto an und staune über die jetzt reißenden Bäche. Ist der Schwarzwald zu wild für mich? Das Kuckucksuhrenidyll?
Es ist fast dunkel, als ich auf der Schwarzwaldhochstraße gen Süden fahre. Sie wurde 1930 gebaut, um Gäste schneller zu einem guten Dutzend alteingesessener Nobelherbergen zu bringen: Im Kurhaus Sand gastierte schon 1883 Kaiserin Sissi von Österreich, im Schlosshotel Bühler Höhe erholte sich 70 Jahre später Konrad Adenauer. Nach und nach tauchen die Paläste am Straßenrand auf: Die Fenster sind vernagelt, die Schindeln aus der Fassade gebrochen, die Eingänge mit Bauschutt-Containern verstellt. In den Achtzigerjahren begann der Tourismus zu stottern. Ich komme unter im Schliffkopf – einem der zwei Hotels, die entlang der Straße noch in Betrieb sind. Zum Aufwärmen schlappe ich in die Saunalandschaft. In einem Schwitzbad fächert waldgrünes Licht über die Wände, aus Lautsprechern höre ich Bäche klickern und Vögel tschilpen. Ein irrer Kitsch. Trotzdem seufze ich. So hätte es sein können in meinem Camp!
Das Hotel Schliffkopf verkörperte nie die weite Welt, es hat sich aus einem Vereinsheim entwickelt. 1991 brannte das Hotel nieder und wurde als Wellnesspalast neu eröffnet. Der Frühstückssaal erinnert wohl deshalb an die Kulisse einer frühen RTL-Show: viel Apricot, Gold und Kirschrot, marmorierte Säulen, Scherenschnitte in Kunststoffrahmen. Manche Gäste tragen Hausschuhe, die Bedienungen alle Dirndl. Meine spricht ein diminutivverliebtes Schwäbisch, in dem sich wahrscheinlich die schlimmsten Dinge sagen lassen, ohne dass es auffällt. Sie fragt nach dem Nächtle, bringt Messerle und Gäbele. Hinter den Fenstern wabert unterdessen ein Wolkengebräu, das immer wieder aufreißt und den Blick freigibt auf Wälder bis an den Horizont. Beim zweiten Honigbrötchen hält es mich nicht mehr, ich muss hinaus.
Das Schliffkopf liegt mitten im Nationalpark, wo die Natur sich selbst überlassen wird und der Schwarzwald so wild ist wie nirgends sonst. In Wirtschaftswäldern erreichen Bäume bestenfalls ein Drittel ihres natürlichen Alters – hier dürfen sie so lange leben, bis sie sterben und Platz machen für die nächsten. Das gilt auch dann, wenn ihnen ein Sturm den Garaus macht. Wie der Jahrhundert-Orkan Lothar, der 1999 nur eine Viertelstunde brauchte, um im Schwarzwald zahllose alte Bäume zu entwurzeln oder umzuknicken. Was passiert, wenn man dann nicht aufräumt, erlebt man auf dem "Lotharpfad", einem Weg durch ein Gebiet, das seit der Naturkatastrophe unangetastet ist. Eine Wanderstunde vom Hotel führen Stege und Treppen über eine Kuppe, auf der Fichten, Birken, Sträucher und Gräser zu einem grandiosen Gestrüpp zusammenwuchern. Dazwischen liegen gewaltige herausgerissene Wurzelknäuel. Sie wirken wie abstrakte Kunst. Doch die vielen Familien, die im Raschelrhythmus ihrer Funktionsklamotten die Stege abmarschieren, haben dafür kein Auge.
Der "Wildnispfad" verspricht schon wegen seines Namens mehr. Als ich über die Hochstraße zu ihm fahre, haben sich die Wolken verzogen. Unter mir schimmert das Rheintal im Dunst, in der Ferne der Höhenzug der Vogesen. Dass die Erbauer der Panoramastraße nicht nur die Hotels, sondern auch das Fahrvergnügen im Sinn hatten, ist nun ebenso sonnenklar. Ihr schwungvoller Verlauf ist die reinste Kurvenmusik. Das wissen auch die zahlreichen Porsches, die hinter mir kurz mit ihren Luchsgesichtern wackeln, bevor sie zum Überholen ansetzen. Auf dem Pfad dauert es ein wenig, bis ihr Röhren verklingt. Doch dann brauche ich keine fünf Minuten, um ein anderer Mensch zu werden. Robin Hood. Oder ein Hänsel ohne Gretel. Außer mir ist niemand unterwegs, in engen Windungen zieht mich der Weg immer tiefer hinein in ein von Wasseradern durchplätschertes Waldgeheimnis. Ich klettere über Buchen und Tannen, die von Stürmen quer über den Weg geworfen wurden. Atme harzigen Duft, höre Vogelzwitschern. Und setze mich immer wieder hin, um die durchs Geäst fallenden, grünlich leuchtenden Sonnenstrahlen zu betrachten. Waldeinsamkeit!
Ich wüsste gern mehr über diese Welt. Da passt es, dass ich mich mit Wolfgang Schlund verabredet habe. Ich treffe den Leiter des Nationalparks am nächsten Tag auf halber Strecke der Hochstraße. Silberheller Fünftagebart, wache Augen, gute Laune: Schlund ist ein Mann, mit dem man sich durch jeden Dschungel schlagen würde. Über ein Hochplateau wandern wir zur Herzkammer des Parks, einem 150 Hektar großen Bannwald, in dem die Forstdirektion schon seit 1911 jeden Eingriff untersagt. Dem restlichen Nationalpark ist er dadurch mehr als 100 Jahre voraus. Die Bäume brausen. Flechten hängen wie Bärte von den Zweigen. Ich denke an die Prophezeiung, dass die Natur nach dem Ende der Menschheit nur 100 Jahre bräuchte, um deren Spuren zu tilgen.
Hier glaube ich sie sofort. Steil geht es hinab zum Wilden See, einem moorbraunen, von einer dichten Waldborte eingefassten Auge. Immer häufiger sehen wir jetzt Fichten, die grau und kahl in den Himmel ragen, als hätte sie ein Fluch getroffen. Andere liegen mikadowirr am Boden in verschiedenen Stadien der Verwesung. Doch im Totholz tobt das Leben: Flechten und Pilze, Insekten, Vögel und Säugetiere profitieren von diesem Prozess, sagt Schlund. Er zeigt auf geheimschriftartige Spuren in einem Stamm. Es sind die Larvengänge des Buchdruckers, einer Borkenkäferart: "Die ersten Angreifer einer Fichte sterben, weil die sich mit einem giftigen Harz wehrt. Doch irgendwann können sich ein paar Käfer einbohren. Sie produzieren einen Duftstoff, mit dem sie ein Heer von Artgenossen anlocken. Schließlich muss sich der Baum dem Ansturm ergeben." Klingt fast nach dem Militärgelehrten Clausewitz. Aber ist nicht bald gar kein Wald mehr da, wenn der Borkenkäfer tun und lassen kann, was er will? Ach was, sagt der Biologe: "Der befällt praktisch nur Fichten und Exemplare ab 70 Jahren."
Für andere ist er der Todfeind. Bevor der Nationalpark an den Start ging, entbrannte ein Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern. Autoreifen wurden zerstochen, Vereinsmitglieder sprachen nicht mehr miteinander. Schlund versteht die Aufregung: "Wer seit Generationen mit dem Wald arbeitet, erträgt es nicht, dass der nur herumliegt. Dabei ist der Nationalpark viel lebendiger und robuster als jeder Nutzwald."
Aber ist die Wildnis zwangsläufig auch die schönere Natur? Ich miete mir anderntags ein Mountainbike und holpere hinunter nach Baiersbronn, wo sich in einer Umfrage acht von zehn Bewohnern gegen das Projekt aussprachen. Milane zerschneiden den Himmel, Rehe preschen über den Weg. Dann lichten sich die Bäume, und das Murgtal öffnet sich zu einer Hügellandschaft wie aus einem Hesse-Roman. Hier liegt Baiersbronn, berühmt für seine Restaurants mit insgesamt acht Michelin-Sternen, als Streusiedlung inmitten von Blumenwiesen.
Ich passiere murmelnde Bäche, kleine Sandsteinbrücken und bunte Häuser mit Giebeln, so spitz wie gefaltetes Papier. Unwillkürlich beginne ich zu pfeifen in dieser heilen Welt, der die Verbundenheit und der Fleiß tief eingeschrieben sind: Alles ist gefegt, gestutzt, geordnet. Dies ist eine Kulturlandschaft, die seit Jahrhunderten wie der ganze Schwarzwald abgeholzt, aufgeforstet, beweidet und mit Wehren an den Flüssen zum Flößen und Sägen nutzbar gemacht wurde. Den Wald einfach Wald sein zu lassen muss hier verdächtig sein. Aber das heißt nicht, dass mich diese Landschaft kaltließe. Sie rührt mich auf ihre Art ebenso wie Schlunds grünes Chaos.
Am nächsten Tag suche ich noch mal die Wildnis – jene, die sich zurückholt, was der Mensch in sie hineingestellt hat. Mein Ziel ist das aufgegebene Grandhotel Waldlust in Freudenstadt am Ende der Hochstraße. Von 1902 an beherbergte es den internationalen Hochadel. Vor 14 Jahren wurde es geschlossen und gammelt seitdem zwischen Bäumen vor sich hin. Doch in Absprache mit dem Freudenstädter Denkmalverein kann man in einer Suite übernachten.
Als ich den Lost Place am Abend erreiche, präsentiert sich ein Belle-Époque-Palast im lila Scheinwerferlicht. Es ist eine Art Kostümball im Gange, eine der Veranstaltungen, die der Verein hier hin und wieder abhält. Im Festsaal rauschen Frauen in viktorianischen Kleidern umher, Männer tragen Zylinder und schwarze Rüschenhemden. Sie sehen aus wie Totengräber. Dazu passt die Hinfälligkeit allerorten. Die Kassettendecke hat Löcher, die Wände häuten sich, Schimmel kriecht aus den Ecken. Und es kommt noch gespenstischer: Das Hotel Waldlust sei schon mehrmals von Geisterjägern untersucht worden, erzählt mir Mike aus Stuttgart, der sich als Parapsychologe vorstellt. Seit den Sechzigerjahren habe das Personal über unerklärliche Phänomene berichtet – wackelnde Gläser, Anrufe aus unvermieteten Zimmern, Babygeschrei, obwohl kein Kind da war. "Das sind die unerlösten Seelen, die hier feststecken", sagt Mike.
Kurz vor Mitternacht ist das Fest vorbei. Der Vorsitzende der Denkmalfreunde gibt mir den Schlüssel, dann bin ich der einzige Mensch im Haus. Ich stelle meine Tasche in die Suite, wo es außer Bett, Stuhl und Tisch nichts gibt. Weil nur Säle und Suite über Strom verfügen, setze ich eine Stirnlampe auf und ziehe los in die wattige Stille. Manchmal knarzt der Boden, als habe er die Geräusche sämtlicher Schritte in sich gespeichert. Vor mir zittert der Lichtkegel. Die Hand, die in ihm erscheint, gehört mir, aber sie wirkt fremd. Immer wieder öffnet sie Türen. In einem Raum glotzen mich Dutzende Röhrenfernseher an. In einem anderen erschreckt mich ein ananasgelbes Himmelbett. Dann öffne ich die Tür von Zimmer 434. Hier soll die Hotelinhaberin Adele 1949 ermordet worden sein und nun keine Ruhe finden. Über dem Kopfende ihres Bettes erkenne ich den Schatten, von dem Mike erzählte. Er ist wohl ein Wasserschaden. Aber einen melancholischeren Totenkopf als den hier hätte auch Käthe Kollwitz nicht malen können. Am Morgen sehen die Denkmalfreunde ganz normal aus, als sie mir ein prächtiges Frühstück servieren. Dennoch bekomme ich auf dem Rückweg die arme Adele lange nicht aus dem Kopf. Es gelingt mir erst kurz vor Baden-Baden: bei einem Stück Schwarzwälder Kirschtorte.
Diese Geschichte erschien im Original in DIE ZEIT Nr. 26/2019
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