Die Kraft der Kräuter
Wildkräuter sind die heimlichen Superhelden des Waldes. In einigen von ihnen steckt viel mehr, als man ihnen zutraut.
Was hat die Schwarzwälder Kirschtorte mit Gravelbikepacking gemeinsam? Zunächst einmal nicht viel. Rund, dick, mächtig, geschichtet und beschwipst. Sie ist international bekannt. Jeder kennt sie, jeder liebt sie. Fast alle. Ich mochte sie nie. Bis ich zum ersten Mal in den Schwarzwald kam.
Wir sind gerade mal 30 Kilometer gefahren. Grobe Schotterwege mit kurzen, knackigen Anstiegen und wurzelige Waldtrails im Wechsel lassen den Puls immer wieder in die Höhe schnellen. Jeder Zentimeter meines Bikes wird sinnvoll genutzt. Schlafsack, Isomatte, Zelt, Kochgeschirr, Gaskartusche, Stirnlampe, Werkzeug und natürlich eine warme Jacke müssen verstaut werden. Das bringt einiges an Gewicht mit sich. Und das spüre ich auf den Anstiegen. Frühmorgens sind wir heute hier aufgebrochen. Vier Tage und drei Nächte wollen wir durch den Schwarzwald rund um Baiersbronn fahren. Auf einem Rennrad mit Stollenreifen. Ein sogenanntes Gravelbike. Waldwege, kleine Pfade und wenn es sein muss auch Schotterpisten, das ist das Terrain, das wir lieben. Wir, das sind Carina, Conny und ich. Abenteuerlustig, lebhaft und nie ohne Worte, so könnte man uns beschreiben.
Am Abend zuvor haben wir uns hier getroffen. In einem kleinen, romantischen Gasthof am Ende des Tals. Ganz versteckt hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen. Man riecht den Duft des Waldes. Von hier aus kommt man nur zu Fuß oder mit dem Fahrrad weiter. Hier konnten wir in aller Ruhe unsere Räder satteln und ausgeschlafen an diesem Morgen starten. Die Luft an diesem Maimorgen ist frisch und kühl. Unser Ziel für heute ist der Buhlbachsee. Doch bis dahin liegen noch einige Kilometer und Höhenmeter vor uns. Es rollt angenehm bergauf, so dass wir schnell Kilometer machen. Dabei haben wir uns wie immer viel zu erzählen. Die Sonne wärmt langsam unsere Muskeln und bald taucht dunkel glitzernd der traumhaft an der Schwarzwaldhochstraße gelegene Mummelsee auf. Der größte der sieben verbliebenen Karseen ist sagenumwoben. Seine dunkle, tannengrüne Farbe lässt ihn geheimnisvoll erscheinen. Wir befinden uns hier im südlichen Teil des Nationalparks Schwarzwald. Auf der Aussichtsplattform legen wir einen Fotostopp ein. Von hier aus haben wir einen herrlichen Blick ins Rheintal und über den gesamten südlichen Teil des Nationalparks. Wir halten kurz inne und atmen tief durch. So schön, so grün und so weit ist es hier.
Carina lässt vorsichtig durchblicken, dass sie Hunger hat. Und nicht nur sie. Wir rollen hinunter in eine Talebene, saftig grüne Wiesen und gelbe Rapsfelder ziehen an uns vorbei. Links von uns taucht ein stattliches Schwarzwaldhaus auf. Ein großes Holzschild weist uns den Weg: Der Forellenhof. Davon haben wir schon viel gehört. Schnell ist entschieden, dass wir hier einkehren. Vorbei an unzähligen Teichen, in denen Forellen schwimmen, schieben wir unsere Räder zum Fahrradständer am Eingang. Die große Forellenzucht hier hat eine lange Tradition. Wir drei finden einen perfekten Platz auf der Sonnenterrasse und wählen uns einmal von oben nach unten durch die Speisekarte. Was wir bekommen, ist das Genusserlebnis „Forelle“ für alle Sinne. Und dafür ist der Schwarzwald ja bekannt. Hier kann man überall sehr gut und sehr fein essen. Nicht weniger als acht Michelin Sterne aufgeteilt auf vier Restaurants funkeln am Gourmethimmel über Baiersbronn. Aber wir sind leider nicht hier, um Sterne zu sammeln, wir wollen Sterne sehen. Am liebsten am Himmel.
Wieder im Sattel fühlen sich die ersten Kilometer etwas schwerfällig an. Wir kommen an der Glashütte Buhlbach vorbei. Wir werfen einen kurzen Blick in das alte Glasmachergebäude, in dem die Champagnerflasche ihren Ursprung hat. Der Schwarzwald hat Geschichte und Tradition. Conny drängt uns weiterzufahren, um unser Tagesziel noch bei Tageslicht zu erreichen. Wir kommen an einen wunderschönen See. Ringsherum ein lichter Wald. Unser Nachtlager könnte nicht schöner sein. Hier sind wir an einem der sieben Trekkingplätze im Schwarzwald angekommen, an denen man ganz offiziell, aber nur mit Voranmeldung, mitten im Wald übernachten darf. Sogar ein Toilettenhäuschen aus Holz gibt es. Mit einem Herz als Guckloch. Nur für uns. Schnell bauen wir unsere zwei Zelte auf. Drei Zelte hätten hier Platz. Mehr nicht. Carina und ich gehen gleich Holz sammeln, während Conny unser Picknick vorbereitet. Es ist nicht schwer, genug trockenes Material zu finden. Wenig später sitzen wir um unser loderndes kleines Lagerfeuer und grillen die mitgebrachten Würstchen, lachen, plaudern und zählen die Sterne bis spät in die Nacht. Als ich viel später in meinem Schlafsack liege, höre ich nur noch das leise Rascheln der Blätter im Wind und die leisen Rufe der Tiere.
Der Klang der Wildnis ist es auch, der uns am Morgen aufwachen lässt. Während Carina den Espresso auf unserem kleinen Benzinkocher zubereitet, rolle ich die Isomatten zusammen und stopfe die Schlafsäcke in ihre Hüllen. Wir löffeln unser Müsli, der Espresso erweckt uns zum Leben und wenig später ist alles wieder verstaut und auf die Bikes gesattelt. Spurlos verlassen wir unser kleines Paradies.
Unsere Route führt uns in zwei weiteren Etappen durch das Naturerlebnis Schwarzwald. Auch die beiden anderen Übernachtungsplätze finden wir ganz für uns allein. Am letzten Morgen sind wir ein wenig traurig. So weit weg von zu Hause war ich schon lange nicht mehr. Abstand von all dem, was zu Hause und bei der Arbeit täglich auf einen einprasselt. Hier gelten andere Gesetze. Die Natur ist einem so nah. Man beginnt wieder zu riechen, zu hören, zu schmecken, zu sehen. Und dafür muss ich nicht ans andere Ende der Welt reisen.
Unsere letzten Kilometer schlängeln sich auf einem kleinen Pfad durch den Wald. Links und rechts grünt der Farn und lässt den Weg manchmal nur erahnen. Plötzlich taucht vor uns eine schmucke kleine Schwarzwaldhütte auf. Die Tische sind hübsch gedeckt, mit Spitzendeckchen, wie bei Oma zu Hause. Und irgendwie weiß ich, dass der Moment gekommen ist. Schnell sind wir uns einig, dass wir hier noch einmal einkehren, bevor uns die Zivilisation wieder einholt. Einige Stufen führen zum Eingang. Und da sehe ich sie. Sie lacht mich an. Aus ihrem Schaufenster. Rund, dick und mächtig, ein schwarzes Kleid aus Schokostreuseln, eine weiße Bluse aus Sahne und rote Kirschen als Bollen auf dem traditionellen Schwarzwälder Hut. Die Zeit ist reif. Der Schwarzwald hat mehr zu bieten als Kuckucksuhren, Bollenhüte und Schwarzwälder Schinken. Der Nationalpark Schwarzwald ist eine Oase der Ruhe, Natur und Ursprünglichkeit, wie man sie nur noch selten findet. Und die Schwarzwälder Kirschtorte ist die süßeste Verführung, von der ich je geträumt habe.
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